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Sind die Geweihe vom frühen Menschen modifiziert?

Bruchmuster

Die kontrollierte Zerlegung von Geweih geht normalerweise mit der absichtlichen Schwächung des Geweihs einher, deren Spuren in Form von Kerb-, Säge-, Schnitt- oder Hackspuren sichtbar wird; möglich ist auch eine Schwächung einer Geweihpartie durch Erhitzen. Keine der genannten Spuren, die eine kontrollierte, intentionelle Geweihzerlegung zum Zwecke der Werkzeugherstellung anzeigen würden, ist im Bilzingslebener Geweihmaterial beobachtbar.

D. Mania (1986b) erwähnte das Vorkommen von Hackspuren an einigen Geweihfunden. Als Beispiel seien die Spuren erwähnt, welche nahe der distalen Bruchstelle der Geweihbasis von Zusammenpassungseinheit Nr. 75 liegen (Mania 1986b), Taf. 108). Der genannte Bruch ist ein stufiger Bruch der Stange im Bereich des Eissproßansatzes. Diese Bruchform ist an dieser Stelle an mehreren Geweihen zu beobachten. Am genannten Geweihfund befinden sich 3 mehr oder weniger parallele Spuren (Abb. 30) etwa 1 cm unterhalb der Bruchstelle auf der lateralen Seite der Geweihbasis.

figure 30
Abb. 30: Drei mehr oder weniger parallele Spuren etwa 1cm unterhalb der Bruchstelle auf der lateralen Seite der Geweihbasis der Zusammenpassungseinheit Nr.75.

Sie wurden als Hackspuren interpretiert, welche von intentionellen Schlägen herrühren, die zum Zerbrechen des Geweihes führten. Letztlich ist die Intentionalität (die Stelle, an der sich die Spuren befinden würde für eine destruktive Intention sprechen, wie auch D. Mania (1986b) bemerkte) auf der Grundlage dieser Spuren jedoch nicht zu beweisen. Es wurden Experimente durchgeführt, um mögliche absichtliche Zerlegungs- und Formgebungsarbeiten am Geweih zu simulieren. Diese Experimente zeigten, daß das intentionelle Zerteilen einer Geweihstange oder auch das Abtrennen eines Geweihsprosses nach 3 Schlägen mit einem schweren Hackwerkzeug, die Hackspuren hinterlassen, unmöglich ist. Um ein Geweih an bestimmter Stelle, zum Zwecke des anschließenden Zerbrechens ausreichend zu schwächen, sind viele Schläge notwendig (Abb. 31).

figure 31
Abb. 31: Experimentell mit einem schweren Hackwerkzeug produzierte Spuren.

Unter dem Mikroskop lassen sich ferner Felder feiner paralleler Kratzer erkennen, die die eigentliche Hackspur begleiten. Solche Spuren sind im Umfeld der drei Kratzer auf der Geweihbasis von Zusammenpassungseinheit Nr. 75 nicht vorhanden. Der Bruch entstand vermutlich aus anderen Gründen als durch die Einwirkung eines schweren Hackwerkzeuges.

Die unkontrollierte Zerlegung von Geweih ist theoretisch ein anderer Weg zur intentionellen Zerlegung. Experimente mit einer schweren Travertinplatte (ca. 70kg), welche auf intakte Geweihe geworfen wurde, zeigten, daß eine unkontrollierte Zerlegung des Geweihes so möglich ist. Das Geweih zerbricht entlang seiner Schwächezonen: so bricht die obere Stange meist im Bereich des Mittelsproßansatzes ab, und abhängig davon, auf welcher Seite das Geweih auf einer steinernen Unterlage liegt, bricht auch meist einer der beiden Basissproße ab. Es war überraschend, wie wenige Spuren durch derart unkontrollierte Zerlegung auf den Geweihoberflächen entstanden. Andererseits entstanden bei dieser Zerlegungsart an trockenen Geweihen relativ häufig Fragmente, die als Bruchlippen bezeichnet werden (Abb. 32). Solche Fragmente kommen im Fundmaterial von Bilzingsleben nicht vor.

figure 32
Abb. 32: Bruchlippen, wie sie bei unkontrollierter Zerlegung von Geweihen entstehen.

Unter Verwendung der Terminologie von P. Villa und E. Mahieu (1991) wurde das Bruchmuster des Bilzingslebener Geweihmaterials beschrieben, unterschiedliche morphologische Positionen der Brüche wurden berücksichtigt. Geweihfunde mit unvollständigen Stangen- oder Sproßumfängen im Bruchstellenbereich (ca. 11%) wurden ausgeschlossen. Die Brüche der zusammenpassenden Funde wurde separat gezählt. Eine dritte Gruppe von Brüchen wurde ebenfalls untersucht: während der Ausgrabungen wurden die meisten Geweihfunde zerbrochen angetroffen. Sie zerbrachen durch Sedimentauflast an in der Struktur geschwächten Stellen. Meist wurden solche Stücke noch während der Ausgrabungen zusammengeklebt. Dadurch ist die Beobachtbarkeit der Bruchflächen eingeschränkt, dennoch dient diese Gruppe von Brüchen als eine im Material vorhandene Kontrollgruppe für ein Bruchmuster, daß durch Sedimentbruch an diagenetisch vermutlich verändertem Geweihmaterial entstand.

Die Bruchmuster der Stangenelemente (Tab. 5), sowie der Basissprosse (Tab. 6) sind relativ einförmig.

Bruchwinkelschrägrechtwinkligschräg + rechtwinklig
Untere Stangen70.1 %18%11.4%
Untere Stangen, zusammengesetzt56.1%21.9%21.9%
Untere Stangen, zusammengeklebt66.1%30.8%3.2 %
Bruchformtransversalgebogenintermediär
Untere Stangen14%58.5%27.4%
Untere Stangen, zusammengesetzt23.1%64 %12.8%
Untere Stangen, zusammengeklebt,26.9%62.2%15.2%
Bruchkanteglattrauhgezackt
Untere Stangen-61.4%38.4%
Untere Stangen, zusammengesetzt7.5%67.5%25%
Untere Stangen, zusammengeklebt1.2%83.8%15.1%
Tab 5. Bruchmuster der Stangenelemente.
Bruchwinkelschrägrechtwinkligschräg + rechtwinklig
An Stangen ansitzende Sprosse49.7 %15.2%35%
An Stangen ansitzende Sprosse, zusammengesetzt48%22% 30%
An Stangen ansitzende Sprosse, zusammengeklebt67.3%16.3%16.3 %
Bruchformtransversalgebogenintermediär
An Stangen ansitzende Sprosse11.9%55.6%32.5%
An Stangen ansitzende Sprosse, zusammengesetzt21.6%51 % 27.5%
An Stangen ansitzende Sprosse, zusammengeklebt16.3%67.3% 16.3%
Bruchkanteglattrauhgezackt
An Stangen ansitzende Sprosse1.9%51.7%46.4%
An Stangen ansitzende Sprosse, zusammengesetzt-60% 40%
An Stangen ansitzende Sprosse, zusammengeklebt-71.4% 28.6%
Tab. 6 Bruchmuster der Basissprossen und Basissprossen Elemente.

Dieselben Tendenzen in den relativen Anzahlen der unterschiedenen Brüche und Bruchmerkmale weisen auf die Wahrscheinlichkeit hin, daß andere Gründe als Sedimentauflast nicht notwendigerweise aus den beobachteten Mustern abgeleitet werden müssen. Mit anderen Worten: das beobachtete Bruchmuster erlaubt es nicht, schlüssig eine absichtliche Zerlegung von Geweih durch den frühen Menschen nachzuweisen.

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© Internet Archaeology URL: http://intarch.ac.uk/journal/issue8/vollbrecht/deu/8.html
Last updated: Wed Sep 20 2000